Selbsthilfe am Montag ist zu wenig

November 16th, 2022

Wenn der bürgerliche Protest gegen die Corona-Maßnahmen relevant bleiben will, darf er nicht in dieselbe Moralisierungsfalle tappten wie zuvor schon so viele Politiker, Wissenschaftler, und Journalisten. In der Coronazeit sind Freiheiten einfach per Dekret eingeschränkt worden. Das muss dringend aufgearbeitet werden; vielleicht sogar juristisch. Voraussetzung dafür ist eine offene und gesamtgesellschaftliche Debatte. Diese müssen wir dringend einfordern und darauf bestehen, dass in Zukunft niemand mehr zu körperlichen Eingriffen gedrängt oder genötigt werden darf. Um diesen ernsthaften Anliegen Nachdruck zu verleihen, ist es wichtig, sich von all jenen zu trennen, die den legitimen Wunsch nach politischer Mitbestimmung durch Trotz und Verschwörungsmythen ins Lächerliche ziehen.

“It takes a great deal of bravery to stand up to our enemies, but just as much to stand up to our friends.” — J. K. Rowling

»Wir sind die rote Linie«, aber ein roter Faden ist nicht mehr erkennbar.

Als auch im Westen viele auf die Straße gingen, um gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht und den Versuch einer Segregation nach Impfstatus zu demonstrieren, war ich dabei. Nach dem Scheitern der Impfpflicht für alle (leider war eine sogenannte einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht abzuwenden) wurden die Demos kleiner, aber deren Themenvielfalt größer. Die Demos wurden zum Ausdruck einer grundsätzlichen Unzufriedenheit, und der Ton wurde wehleidig und selbstgerecht.

Heute, ein Jahr danach, gibt es diese Demos immer noch. Manche Teilnehmer tragen Transparente auf denen steht: »Wir sind die rote Linie.« Ein roter Faden ist indes nicht mehr erkennbar. Demonstriert wird für und gegen alles, was pauschal genug ist, um der erlebten Frustration Luft zu machen: Steuergeldverschwendung, Lebenshaltungskosten, Krieg und Frieden, Zukunft der Kinder und so weiter. Auffallend ist die starke Ichbezogenheit. Dadurch wirken die Demos nicht so sehr wie politische Willenskundgebungen, sondern eher wie Selbsthilfegruppen. Leider sind die noch verbliebenen Demoteilnehmer längst in dieselbe Moralisierungsfalle getappt wie zuvor schon so viele Politiker, Wissenschaftler, Redakteure der Massenmedien und große Teile der Gesellschaft: »Gut, dass ich nicht so bin wie die.« Gut und Böse, Opfer (»Wir wollen unser altes Leben zurück.«) und Täter (»Schwurbler«, »Leugner«, »Verschwörer«, »Hetzer« und »Spalter«). Die Bösen sind immer die anderen.

In Deutschland gehen die Moralvorstellungen inzwischen weit auseinander. Das zeigt, wie divers diese Gesellschaft tatsächlich schon ist. Angesichts der Fülle der weltanschaulichen Festlegungen ist ein gemeinsamer Verhaltenskodex nicht mehr vorstellbar, daher müssen Rechte und Pflichten, insbesondere die Freiheitsrechte, neu und klarer definiert werden. Das geht aber nur nach einer breiten gesellschaftlichen Diskussion.

Wir erleben derzeit eine Bevormundung durch Wohlmeinende, durch Leute, die uns ständig vor irgendetwas beschützen wollen: vor Krankheit, Tod und Klimawandel – und vor uns selbst. Der irische Schriftsteller C. S. Lewis schrieb in seinen Gedanken zur Theologie und Ethik:

»Of all tyrannies, a tyranny sincerely exercised for the good of its victims may be the most oppressive.« — ― C.S. Lewis, God in the Dock: Essays on Theology

Aufarbeitung ist wichtig, und ein klares Ja zur Demokratie.

In der Coronazeit sind Tatsachen vor allem per Dekret geschaffen worden. Die Grundlage dafür bietet das Infektionsschutzgesetz (IfSG) mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, die grundgesetzlich garantierten Freiheiten wie die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung einzuschränken. Aber ist das nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre noch zeitgemäß? Wenn die bürgerliche Opposition gegen die Corona-Maßnahmen, egal ob auf der Straße oder im Parlament, relevant bleiben will, muss sie auf diese Frage eine Antwort finden. Sie darf sich dann nicht im Gefühligen und in Verschwörungstheorien verlieren. Sie darf sich nach keinem Zurück sehnen, sondern muss konkrete Veränderungen anstreben und entsprechende Forderungen stellen. Dazu gehört ein klares Ja zur Demokratie.

Klar ist, dass es eine Aufarbeitung geben muss: vielleicht sogar eine juristische. Dafür ist eine offene und gesamtgesellschaftliche Debatte unerlässlich. Das wäre meine erste Forderung. Wir brauchen auch unbedingt mehr Transparenz bezüglich der mit öffentlichen Geldern erhobenen Daten, Publikationen und Studien.

Medizinische Eingriffe dürfen nicht zur Frage der Moral erhoben werden.

Meine zweite Forderung wäre: das Tabu von körperlichen Eingriffen (nichts anderes ist eine Impfung). Zwar ist die Freiheit ein Rechtsgut, aber was genau damit gemeint ist, erschließt sich bislang nur im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Niemand sollte sich in Zukunft zum Schutze anderer medizinischen Eingriffen unterziehen müssen. Darauf sollten wir uns als Gesellschaft unbedingt verständigen. Zur Seuchenbekämpfung kann auf andere Maßnahmen zurückgegriffen werden. Wie schnell medizinische Eingriffe zur Frage der Moral erhoben werden können, hat die COVID-19-Pandemie gezeigt. Das gilt es in Zukunft kategorisch auszuschließen.

Um diesen ernsthaften Forderungen Nachdruck zu verleihen ist es wichtig, sich von all jenen zu trennen, die den legitimen Wunsch nach politischer Mitbestimmung durch Trotz und Verschwörungsmythen ins Lächerliche ziehen. Die Entwicklung der »Olli-Spaziergänge« in Siegen ist dafür ein mahnendes Beispiel. Gestartet als bürgerlicher Protest sind sie heute Projektionsfläche wildester Verschwörungstheorien. Keiner nimmt das noch ernst.

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