Nach dem Kirchenaustritt von Manfred Gläser, dem Präses der Siegerländer und Wittgensteiner Pietisten, nutzte der Siegener Superintendent Peter-Thomas Stuberg eine ganze Zeitungsseite zur Selbstdarstellung. Alle Gottesbilder seien relativ, befand er und fügte hinzu: es gelte den Wahrheitsgehalt von biblischen Geschichten wie der Jungfrauengeburt herauszufinden.
Ich fand das Interview mit Herrn Stuberg sehr informativ und hilfreich, denn trotz abgeschlossenem Theologiestudium war es mir zuvor nicht gelungen, die Grundidee der landeskirchlichen Religion zu verstehen. Durch das Interview mit dem Siegener Superintendenten habe ich gelernt, dass sie so individuell und verschieden ist, wie die Zeiten und Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise damit zu tun gehabt haben.
Wer sich mit Gott beschäftigen wolle, müsse zunächst in sich hineinhören (wörtlich: “die Seele als schwingenden Resonanzraum einsetzen”), denn Gott verstecke sich oft hinter den Worten, so Peter-Thomas Stuberg. Um im Bild zu bleiben: es kommt nicht auf die Noten an, sondern auf die Töne, die dem Betrachter einer Partitur einfallen, und die Kirche ist demnach kein Orchester mit fester Hierarchie und festgelegter Sitzordnung, sondern eine Art Flashmob: gespielt wird, was gerade in den Sinn kommt. Nicht irgendein gemeinsamer Glaube macht die Kirche aus, sondern die Vielfalt der Überzeugungen, Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten (Stuberg: “Die Wahrheit der Bibel ist von ihrem Wirklichkeitsgehalt zu unterscheiden”).
Die Landeskirche versteht sich demnach als Gemeinschaft von Menschen, die miteinander nichts gemeinsam haben, außer darüber zu diskutieren.
Für mich als Bekenntnislutheraner ist das eine sehr ungewöhnliche und sicherlich auch sehr calvinistische Vorstellung von Glaube und Kirche, die sich so überhaupt nicht in mein Bekenntnis fügt. Peter-Thomas Stuberg spricht davon, dass seine Landeskirche jetzt über eine Bildungsoffensive nachdenkt, um den Mitgliedern in einfachen Worten zu erklären, “wie man glauben kann, und wie sich Gottes Stimme aus der Bibel heraushören lässt.” Lutherisches Schriftverständnis dagegen erwächst nicht aus einer Lehre über die Bibel, sondern aus ihrem Gebrauch. Wir Lutheraner bekennen die Klarheit der Schrift (claritas scripturae), sowohl im Hinblick auf den äußeren Text als auch auf das innere Anliegen, schließlich ist die Bibel kein Schrift gewordenes Mandala, sondern ein Gnadenmittel, durch das Menschen zum Glauben kommen sollen. Trennt man, wie in der reformierten Tradition üblich, Buchstabe und Geist, liest man zwar viele eigene Gedanken in die Bibel hinein, aber Gottes Wort nicht aus ihr heraus.
“Vereinigung ist kein Zwang”, so die Überschrift des Interviews. Das stimmt! Meiner Meinung nach ist die Einheit der Kirche nur in Wahrheit und Liebe denk- und praktizierbar. Fehlt es an Wahrheit und Übereinstimmung, fehlt es auch an Liebe. Die Kirche ist dann Diskussionsplattform und reiner Selbstzweck. Für mich wäre das nichts.